text

Outplacement

Für Unternehmen
Für Einzelpersonen

NZZ: „Und täglich grüsst die Absage vom HR“

Fachkräftemangel? Ein Manager mit Top-Qualifikationen schrieb 180 Bewerbungen – nun steht er vor der Aussteuerung.

Der 42-jährige Projekt- und Accountmanager mit einem Fachhochschulabschluss in Tourismusmanagement hat mehrere Jahre Berufserfahrung bei verschiedenen Arbeitgebern gesammelt, spricht fünf Sprachen – und ist seit einem Jahr arbeitslos. «Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig wird», sagt Marco Huber (Name geändert).


Ende 2022 kam er mit einem im Ausland erworbenen MBA zurück in die Schweiz. Seither hat der schweizerischitalienische Doppelbürger 180 Bewerbungen geschrieben und noch keine Stelle gefunden. Einladungen zu Vorstellungsgesprächen hatte er mehrere, zweimal sei er sehr nah dran gewesen.
Mittlerweile habe er sich sogar als Kellner und für einen Teilzeitjob in einem Callcenter beworben. «Wenn man es nicht selbst erlebt, denkt man, wer heute in der Schweiz arbeitslos ist, will wohl gar nicht arbeiten», sagt Huber. «Doch das stimmt nicht. Ich will arbeiten.


Tatsächlich scheint es neben dem intakten Schweizer Arbeitsmarkt mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von zwei Prozent eine Parallelwelt zu geben, die anders aussieht. Wer beruflich fest im Sattel sitzt, bleibt davon unbehelligt. Doch immer wieder berichten Menschen von einer Odyssee des erfolglosen Bewerbens – trotz Qualifikation, Berufserfahrung und Leistungswille.


Für die Betroffenen ist dies hart – vor allem, weil die Unternehmen ständig über einen akuten Fachkräftemangel klagen und die Medien diese Klage replizieren. «Es nagt am Selbstbewusstsein, und man fragt sich, was das Problem ist», sagt Huber. Besonders unangenehm sei es, dass er von den Unternehmen häufig überhaupt keine Reaktion auf seine Bewerbung erhalte.


Die Klagen über den Fachkräftemangel und die tiefe Arbeitslosenquote können leicht das Gefühl vermitteln, dass es kein Problem ist, einen neuen Job zu finden. Ein realistischeres Bild des Arbeitsmarktes ergibt sich, wenn man die Arbeitslosenquote der International Labour Organisation (ILO) betrachtet. Für die Schweiz lag diese Quote im dritten Quartal 2023 bei 4,2 Prozent. Im Unterschied zur Quote vom Staatssekretariat für Wirtschaft bezieht die ILO auch Ausgesteuerte ein, die zwar Arbeit suchen, als Langzeitarbeitslose aber keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengelder haben.


Noch weiter steigen würde die Zahl, wenn auch die unfreiwillig Selbständigen in die Rechnung einbezogen wären. Beat Zuber (Name geändert) hat durch die Fusion von UBS und CS seine Stelle verloren. Auf ein volles Einkommen ist der 59-Jährige dank dem grosszügigen Sozialplan nicht angewiesen. Grosse Hoffnungen, in seinem Alter eine neue Stelle zu finden, hat er nicht. Sein Ziel ist ein 50/50-Modell: 50 Prozent Frühpension und 50 Prozent Selbständigkeit. Damit taucht er in keiner Arbeitslosenstatistik auf.


Derzeit dauert es in der Schweiz im Schnitt nach einem Stellenverlust etwas mehr als sechs Monate, bis man einen neuen Job gefunden hat. Dabei gilt die Faustregel, dass es umso länger geht, je höher qualifiziert jemand ist. «Die Jobsuche ist wie ein Job. Das wird von vielen unterschätzt», sagt Sibylle Scheiwiller, leitende Beraterin beim Outplacement-Spezialisten von Rundstedt. Wer nicht glasklar positioniert sei, laufe Gefahr, immer Zweiter zu bleiben.


Das ist wohl auch das Manko von Marco Huber. Er hat in mehreren Branchen als Projekt- und Accountmanager gearbeitet. Sein Lebenslauf ist nicht klar einer Branche zuzuordnen. Potenziellen Arbeitgebern mag der «Stallgeruch» fehlen, die Kenntnis der ungeschriebenen Gesetze und die gemeinsame Sprache der Insider.


Soft Skills zählen kaum
Wie viele Kandidaten machte auch er nach Einschätzung von Sibylle Scheiwiller den Fehler, sich zu breit zu positionieren. Das kann unbestimmt wirken, denn viele Unternehmen suchen Spezialisten für bestimmte Rollen. Wichtig sei, sich in die Rolle des Unternehmens zu versetzen und herauszufinden, wo es drücke, meint Sibylle Scheiwiller. «Bewerber müssen sich überlegen, welche spezifische Schmerztablette sie für das Unternehmen sein können.»


Genau hier offenbart sich auch eine Lücke zwischen Wort und Wirklichkeit. Viele Unternehmen reden davon, wie wichtig Soft Skills seien. Gemeint sind damit fachübergreifende Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften. Viele Bewerber sehen jedoch nicht, dass sie damit punkten können. Soft Skills, also die Kommunikations- und Lernfähigkeit, werden zwar gern als die Kompetenzen der Zukunft bezeichnet. «Nach meiner Erfahrung werden sie aber lange nicht so hoch gewertet wie Berufserfahrung und Fachwissen», sagt die Berufsund Laufbahnberaterin Andrea Gerber.


Die Bereitschaft der Unternehmen, fehlende Fähigkeiten gemeinsam mit dem Kandidaten aufzubauen, sei geringer geworden, stellt Gerber fest. Das macht die Jobsuche für Quereinsteiger und Menschen mit einem Wunsch nach beruflicher Veränderung schwierig. Damit sind auch Zickzack-Biografien weniger gefragt, als Job-Coachs zuweilen propagieren. «Eingestellt wird immer noch wegen der fachlichen Qualifikation», bestätigt Marcel Keller, der CEO Schweiz von Adecco.


Zur Erwartung vieler Stellensuchender, schnell fündig zu werden, mag auch beitragen, dass zwar bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) knapp 40 000 offene Stellen gemeldet sind. Doch immer mehr Berufe sind reguliert und zertifiziert. Wer einen Dachdecker braucht, stellt keinen Automechaniker ein. Eine Fachfrau Gesundheit hat etwas anderes gelernt als ein Fachmann Betreuung, und ein Pilot kann keine Fachärztin ersetzen. Wo ein spezifisches Profil notwendig ist, gibt es wenig Spielraum für Flexibilität. Das Pochen auf die fachlichen Qualifikationen ist damit auch die Kehrseite der guten Ausbildungen in der Schweiz. Ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis ist ein Qualitätsausweis. In Ländern, wo die Berufslehre hingegen keine Tradition hat, wie im angelsächsischen Raum, ist man schneller bereit, Kompromisse zu machen und jemanden anzulernen.


Firmen wollen einen «perfect match», eine genaue Übereinstimmung des Bewerbers mit dem Wunschprofil. Wer nur 80 Prozent der Anforderungen erfüllt, wird oft nicht eingestellt. Die Bereitschaft, auch Bewerbern eine Chance zu geben, die lediglich 80 Prozent der geforderten Fähigkeiten mitbringen, und den Rest zu entwickeln, scheint in der Schweiz sehr gering zu sein. Der Outplacement-Berater von Rundstedt kritisierte unlängst das Zero-Gap-Verhalten von Unternehmen, eine Nulltoleranz gegenüber Abweichungen beim Anforderungsprofil.


Hohe Ansprüche
Jan Jacob, CEO Schweiz des Personalvermittlers Manpower, sieht die Erklärung für die Misere jedoch nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch bei den Arbeitnehmern. «Es gibt schon eine ziemliche Anspruchsmentalität, auch geschürt durch die Presse», so Jacob. Manchmal kämen die Leute nicht von ihrem hohen Ross herunter. Sprich: Der starke Arbeitsmarkt macht auch die Angestellten wählerischer. Guter Lohn, geregelte Arbeitszeiten, kurzer Arbeitsweg und im Büro ein schöner Platz für den Hund – all das soll möglich sein.


Betroffene erzählen eine andere Geschichte. «Es gab bisher keine Angebote, die ich ausschlagen konnte», sagt ein 55-jähriger Teamleiter, der seine Stelle vor einem Jahr bei einer Restrukturierung verloren hat. Auch er berichtet, einige Male in die engere Auswahl gekommen, am Ende jedoch stets abgelehnt worden zu sein. Es reicht eben nicht, zehnmal der Zweite zu sein. Es zählt nur die Nummer eins.


Auch Marco Huber sucht noch immer nach Arbeit. Seit paar Wochen unterstützt er wegen eines Personalengpasses immerhin temporär einen Anwalt. Gesucht wurde dort eigentlich eine erfahrene Fachkraft. Huber und der Besitzer der Kanzlei kennen sich aber seit vielen Jahren. Die Aushilfstätigkeit motiviert ihn. Er hofft dennoch, bald eine feste Stelle zu finden. «Mit Sozialkompetenz sollte man doch fehlende Branchenkenntnisse, die man zudem erlernen kann, auffangen können.»


Zerschlägt sich diese Hoffnung, wird Marco Huber dennoch bald aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden. Da er Ende 2022 von einem Auslandsaufenthalt zurückkehrte, erhält er statt der sonst üblichen 18 Monate lediglich für ein Jahr Arbeitslosengeld. Ende Januar läuft sein Anspruch aus. Dann wird er ausgesteuert.

Zum Artikel