Über 50-Jährige finden leichter neue Jobs – alarmierend ist jedoch der Trend zum früheren Austritt aus dem Arbeitsmarkt.
Kenan Demir ist einer, der den Pessimismus Lügen straft. Anstatt sich der Altersguillotine am Arbeitsmarkt zu ergeben, machte sich der 61-jährige Schweizer nach seiner Freistellung in diesem Sommer auf die Suche nach einem neuen Job. Zuvor hatte er zehn Jahre im Steuerbereich eines deutschen Finanzinstitutes in Zürich gearbeitet. Grosse Hoffnungen hatte er zunächst nicht, doch er sollte sich täuschen. Mitte August habe er seine erste Bewerbung geschickt, drei Wochen später sei eine Einladung zum Interview gekommen. Er sei ebenso überrascht wie erfreut gewesen, so Demir (Name von der Red. geändert). Während der Auswahlprozess lief, bewarb sich der Banker weiter. Schliesslich verlangt auch die Regionale Arbeitsvermittlung (RAV) zehn Arbeitsbemühungen pro Monat. Am Ende hatte der 61-Jährige nicht nur eine, sondern sogar zwei interessante Stellen zur Auswahl.
Kontakte sind entscheidend
Geholfen haben ihm bei seinen Bewerbungen nach eigener Einschätzung vor allem persönliche Kontakte, die mentale Einstellung und die Outplacement-Beratung, die ihm sein alter Arbeitgeber angeboten hatte. Bei Unternehmen, wo er niemanden persönlich gekannt habe, seien hingegen schnell Absagen gekommen. Zugutegekommen ist ihm aber auch der angespannte Arbeitsmarkt. Er habe schon zwei Jahre früher versucht, sich von seinem früheren Arbeitgeber abzusetzen. Dann sei jedoch Corona gekommen. Doch was mit 59 Jahren nicht funktioniert habe, hätte nun mit 61 Jahren geklappt, erzählt der Sohn türkischer Einwanderer zufrieden.
Demir ist ein Paradebeispiel dafür, dass auch ältere Arbeitnehmer wieder eine Chance auf eine neue Stelle haben, und zwar weit über die informelle Schallgrenze von 50 Jahren hinaus. Die Altersguillotine verschiebt sich mit dem angespannten Arbeitsmarkt mehr und mehr nach oben. 50 Jahre sei kein Thema mehr, 55 Jahre auch nicht, auch 58 und 59 würde noch gehen, über 60 sei es weiter schwierig, sagen Personaler.
Grosse Unterschiede gibt es nach Branchen. Gerade in der Gastronomie, wo der Fachkräftemangel am ausgeprägtesten ist, finden gemäss einer Studie des Outplacement-Beraters Rundstedt sogar 60-Jährige wieder Stellen. Ein Grund dafür ist, dass die Eintrittsbarrieren in diesem Bereich tiefer sind als anderswo. Auch im Gesundheits- und Sozialwesen, bei den Dienstleistern, aber auch im Bau und in der Informationstechnologie gaben viele Unternehmen bei einer Befragung im Sommer 2022 an, dass sie weniger Mitarbeitende hätten rekrutieren können als gewünscht. Die Finanzbranche, wo der Fachkräftemangel weniger ausgeprägt ist, tendiert hingegen anstatt zu späten Neueinstellungen zu Frühpensionierungen.
Eine wichtige Rolle spielt die individuelle Arbeitsbiografie. Wer immer wieder einmal gewechselt und sich beruflich à jour gehalten hat, ist besser zu vermitteln als immobil wirkende Bewerber. Grundsätzlich gilt, dass Kompromisse umso nötiger werden, je älter der Bewerber ist. Ohne Zugeständnisse ging der Wechsel auch bei Demir nicht über die Bühne. Er wird bei seinem neuen Arbeitgeber zwar ähnlich verdienen wie zuvor. Eine Lohneinbusse hatte er aber schon vor zwei Jahren in Kauf genommen. Bereits damals drohte eine Kündigung. Diese konnte er jedoch abwenden, indem er einen tieferen Rang und einen tieferen Lohn akzeptierte.
Der ausgetrocknete Arbeitsmarkt zwingt die Firmen heute quasi dazu, auch gegenüber Gruppen offener zu sein, die sie früher a priori nicht in Erwägung gezogen hätten. Dazu gehören neben älteren Mitarbeitenden auch Mütter, die den beruflichen Wiedereinstieg planen. Diese Erfahrung machte auch Demir. Dass er wegen seines Alters diskriminiert worden sei, habe er weniger gemerkt, meint der späte Stellenwechsler. Hingegen seien sein türkischer Name und seine Herkunft eine Bürde gewesen, die er immer schon im persönlichen Kontakt habe aufwiegen können und müssen.
Schlägt das Pendel zurück?
Inzwischen gehört es bei den meisten Unternehmen schon seit Jahren zum guten Ton, Aufgeschlossenheit gegenüber Kandidaten jeglichen Geschlechts und jeglicher Herkunft zu zeigen. Oft handelte es sich jedoch um Lippenbekenntnisse, sagt Pascal Scheiwiller, CEO des Schweizer Outplacement-Spezialisten Rundstedt. Der ausgetrocknete Arbeitsmarkt aber schaffe ein neues Klima. Innerhalb eines Jahres habe sich die Situation deutlich geändert, die Firmen seien offener und toleranter geworden – aus der Notwendigkeit heraus. Fraglich ist allerdings, ob oder wann das Pendel wieder zurückschlägt. Kühlt die Konjunktur ab, wie es derzeit der Fall ist, werden weniger Arbeitskräfte gebraucht. Damit könnten Unternehmen versucht sein, in alte Muster zurückzufallen. In Deutschland erwägt bereits ein Viertel der Unternehmen gemäss einer im Oktober veröffentlichten Umfrage des Münchner Ifo-Instituts den Abbau von Arbeitsplätzen. In der Schweiz haben unter anderem Credit Suisse, Novartis, Clariant und das Industrieunternehmen Schweiter einen Abbau angekündigt. Insgesamt scheint die Lage zumindest in der Schweiz aber vorläufig robust zu bleiben (siehe Kasten).
Doch selbst wenn Russlands Angriff auf die Ukraine die Konjunktur abkühlen lässt, wirkt längerfristig der demografische Effekt. Die Generation der Babyboomer scheidet sukzessive aus dem Arbeitsmarkt aus und wird von den geburtenschwächeren Generationen Y und Z nur unzureichend ersetzt. Der Höhepunkt der Pensionierungswelle wird gegen 2030 erreicht sein. Und da sich die vor einigen Jahren populäre Prognose, dass uns durch die Digitalisierung die Arbeit ausgeht, bisher nicht ansatzweise erfüllt hat, haben die Arbeitnehmer gute Karten.
Unternehmen sollten darum im eigenen Interesse verstärkt ältere Bewerber berücksichtigen. Wichtig ist das auch aus gesellschaftlicher Sicht. Schliesslich steigt die Lebenserwartung. Damit müssen durch die Erwerbsjahre immer mehr Rentenjahre finanziert werden. Diese Rechnung geht nur auf, wenn auch Arbeitnehmer,die der Jugend schon seit einer gewissen Zeit entronnen sind, weiter beruflich mobil sind, ihre Stelle wechseln können und nicht in einer unbefriedigenden Situation erstarren bzw. nach einer Kündigung keine neue Arbeit mehr finden.
Alarmierend ist allerdings, dass derzeit trotz nach oben verschobener Altersguillotine das durchschnittliche Alter beim Austritt aus dem Arbeitsmarkt wieder sinkt. Es lag 2021 mit 65,1 Jahren unter dem Höchststand von 2017 mit 65,8 Jahren. Das bedeutet, dass es immer mehr Rentner auf weniger Erwerbstätige gibt. Während 2011 auf 100 Erwerbstätige zwischen 20 und 64 Jahren 32,7 Personen ab 65 Jahren kamen, waren es 2021 schon 36,2 Personen. Gleichzeitig steigt der Anteil der über 50-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung.
«Zuverlässiger und loyaler»
Das Loblied auf die neuen Lückenbüsser am Arbeitsmarkt hat aber auch seine Grenzen. Es gibt zwar immer mehr Arbeitnehmer in der Altersklasse Ü 50, verfügbar sind de facto aber nur wenige. Traditionell ist die Arbeitslosenquote der über 50-Jährigen in der Schweiz unterdurchschnittlich tief. Der effektive Pool, in dem die Unternehmen fischen können, ist somit eher klein. Ein weiterer Haken: Ältere Mitarbeitende haben im Schnitt höhere Löhne, sind damit teurer und im Vergleich mit den Jüngeren damit unter Umständen doch weniger wettbewerbsfähig. Die höheren Pensionskassenbeiträge verstärken diesen Effekt. Und zu allem Übel sind ältere Arbeitnehmer unter Umständen auch häufiger krank.
Ein Lichtblick für die Älteren ist hingegen, dass eine knappe Mehrheit (51 Prozent) der Schweizer Human-Resources-Manager gemäss einer grossen Befragung des Outplacement-Spezialisten Rundstedt den zunehmenden Jugendwahn bei der Rekrutierung durchaus kritisch beurteilt. So glauben 72 Prozent der über 9000 befragten HR-Manager, dass Junge zwar viel mehr fordern, aber dafür nicht mehr leisten als ihre älteren Kollegen. Dass die Jungen ihre Verhandlungsmacht ausnutzten, komme in vielen Unternehmen nicht gut an. Hier sei bei den HR-Managern eine klare Unzufriedenheit zum Ausdruck gekommen, meint der Rundstedt-CEO Pascal Scheiwiller. Dieser Unmut könne durchaus ein grundlegenderes Umdenken zugunsten der Älteren auslösen, die gemeinhin als weniger anstrengend, zuverlässiger und loyaler gälten.
Arbeitsmarkt bleibt beeindruckend stabil
Der Schweizer Arbeitsmarkt zeigt sich trotz Konjunkturabkühlung bis jetzt sehr stabil. Die Arbeitslosenquote blieb im Oktober bei rekordtiefen 1,9 Prozent. Bei den regionalen Arbeitsvermittlungszentren waren per Ende Oktober 89 636 Arbeitslose eingeschrieben, lediglich 110 mehr als im Vormonat. Gegenüber dem Vorjahresmonat verringerte sich die Arbeitslosigkeit damit um 27 097 Personen bzw. 23,2 Prozent. Angesichts der tiefen Arbeitslosigkeit haben es die Unternehmen so schwer wie schon lange nicht mehr, neues Personal zu finden. Unter zwei Prozent hatte die Arbeitslosenquote vor dem September 2022 letztmals im Oktober 2001 gelegen.
Obwohl sich eine schwächere Konjunktur erst verzögert im Arbeitsmarkt spiegelt, finden sich in den Zahlen des Bundesamtes für Statistik bereits erste Hinweise auf eine mögliche Trendwende. Die Zahl der bei den RAV gemeldeten offenen Stellen verringerte sich im Oktober um 6953 auf 62 889 Stellen. Insgesamt wurden im Oktober 160 094 Stellensuchende registriert. Das waren zwar 695 mehr als im Vormonat, jedoch 21,5 Prozent weniger als in der Vorjahresperiode.
Die Anzahl der Arbeitslosen in der Altersgruppe von 50–64 Jahren erhöhte sich um 210 Personen oder 0,8 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahresmonat entspricht dies dennoch einer Abnahme um 23,6 Prozent.