Gross ist das Wehklagen über den Fachkräftemangel in der Schweizer Wirtschaft. Einige profitieren allerdings davon. Über 50-Jährige etwa, die bisher kaum mehr neue Jobs fanden. Oder Frauen nach einer langjährigen Mutterschaftspause.
60 ist das neue 50 – was in der Gesellschaft längst angekommen ist, erreicht nun auch den Arbeitsmarkt. Die Altersguillotine verschiebt sich. «In einigen Branchen galt man auf dem Arbeitsmarkt bislang schon mit 50 als alt», sagt Pascal Scheiwiller (49), CEO der Outplacement-Firma von Rundstedt & Partner, die Arbeitnehmenden nach einer Kündigung bei der beruflichen Neuorientierung hilft. «Dank des Fachkräftemangels liegt die Schwelle nun viel höher, zwischen 58 und 60 Jahren.»
Zu diesem Schluss kommt eine am Donnerstag erscheinende Studie von Rundstedt, für die fast 1000 HR-Manager von Schweizer Konzernen befragt wurden. In der Gastronomie etwa werden mittlerweile auch über 60-Jährige unbeschränkt eingesetzt. Das überrascht kaum, mussten diverse Restaurants und Hotels in den letzten Monaten vor lauter Personalnot doch die Öffnungszeiten einschränken oder die Menükarte zusammenstreichen.
IT stärker betroffen als Spitäler
Noch stärker vom Fachkräftemangel gebeutelt ist laut der Rundstedt-Umfrage die IT-Branche: 47 Prozent der befragten Betriebe stufen den Fachkräftemangel als «sehr hoch» ein, das ist schweizweiter Spitzenwert. Auch der Detailhandel (44 Prozent) sowie die industrielle Produktion (34 Prozent) schwingen obenaus.
Das Gesundheitswesen belegt mit 31 Prozent unerwartet keinen Spitzenplatz. «Das liegt daran, dass hier nur einzelne Berufsgruppen stark vom Mangel betroffen sind, besonders Pflegefachkräfte», erklärt Scheiwiller. In einem Spital finden sich aber noch diverse andere Berufsprofile, wo die Personalnot weniger akut ist.
Verhältnismässig entspannt zeigt sich die Situation unter anderem im Finanzsektor (12 Prozent) sowie in der Pharma- und Chemiebranche (10 Prozent). Auffällig: Ausgerechnet in diesen Branchen stehen in den kommenden Monaten massive Stellenstreichungen an. Novartis baut in der Schweiz 1400 Stellen ab. Bei der Credit Suisse stehen ebenfalls Tausende Jobs auf dem Prüfstand, die genauen Abbaupläne sind hier noch geheim. Für die betroffenen Angestellten sind es schlechte Vorzeichen, dass in ihrer Branche der Bedarf an Fachkräften tiefer liegt als anderswo.
18 Wochen Vaterschaftsurlaub als Lockmittel
Unternehmen haben im Grundsatz zwei Möglichkeiten, auf den Fachkräftemangel zu reagieren. Erstens: Sie schneiden sich ein grösseres Stück vom kleinen Kuchen ab. Dies, indem sie sich als Arbeitgeber attraktiver machen, dank besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen etwa. «Pharma- und Finanzbranche machen das schon seit Jahren, darum sehen wir dort auch einen tieferen Personalmangel», lobt Scheiwiller. Die Zurich Versicherung oder Novartis etwa bieten ihren Mitarbeitern 16 respektive 18 Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub. Dagegen sehen die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen alt aus.
Zweite Möglichkeit: Vom Fachkräftemangel betroffene Unternehmen vergrössern den Kuchen, anstatt sich nur ein grösseres Stück davon abzuschneiden. Indem sie Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen, die bisher auf der Strecke blieben. «Neben Älteren kommt das auch Langzeitarbeitslosen und Frauen nach über zehn Jahren Mutterschaftspause zugute», erklärt Scheiwiller. Auch Quereinsteiger erhalten so neue Chancen.
Trotzdem bleiben Ältere benachteiligt
Auch wenn sich die Altersguillotine nach oben verschiebt, bleiben ältere Arbeitnehmende auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz liegt gemäss aktuellen Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco bei 2 Prozent. Bei den Über-60-Jährigen klettere der Wert allerdings auf 3 Prozent, heisst es beim Verband Avenir 50 Plus, der sich für die Arbeitsmarktintegration älterer Arbeitnehmenden einsetzt.
«Die Ausgesteuerten und all jene, die an einem Beschäftigungsprogramm teilnehmen, sind darin noch nicht einmal enthalten», kritisiert Heidi Joos (67), Geschäftsführerin von Avenir 50 Plus. Das fällt ins Gewicht, weil Leute ab 50 Jahren viel häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Verantwortlich für die Altersdiskriminierung seien vor allem die höheren Pensionskassenbeiträge, so Joos. «Man müsste langsam über einen Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmenden nachdenken.» In einzelnen Branchen gibt es solche Regelungen über die Gesamtarbeitsverträge bereits.
In der MEM-Industrie etwa profitieren Arbeitnehmer ab 55 Jahren von einer längeren Kündigungsfrist (+1 Monat). Im Baugewerbe werden sie bereits mit 60 pensioniert. Im Vergleich mit dem Ausland sei das aber mager, kritisiert Joos: «In Schweden etwa herrscht bis 67 ein Recht auf Arbeit, da sind Angestellte viel besser geschützt.»
Auch bei den Studienautoren von Rundstedt heisst es, die Arbeitgeber würden seit Jahren beteuern, sie betrieben keine Altersdiskriminierung – die Zahlen sprächen aber eine andere Sprache.